Rhein-Lahn-Zeitung, 22. September 2018:
Verwandlung Beim 3. Nassauer Dialog kommen Chancen und Risiken zur Sprache
Von unserer Mitarbeiterin Ulrike Bletzer
Nassau. Während Stadtbürgermeister Armin Wenzel von der „industriellen Revolution des 21. Jahrhunderts“ sprach, nannte Dietrich Hoppenstedt, Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, es schlicht ein „Megathema“. Josef Peter Mertes, stellvertretender Vorsitzender der G. u. I. Leifheit-Stiftung, wiederum erinnerte leicht nostalgisch an gar nicht so weit zurückliegende Zeiten, in denen die Telefonapparate noch Wählscheiben hatten und man, wenn es schnell gehen musste, auf das gute alte Telegramm zurückgriff.
Anders ausgedrückt: Jeder der drei Vorredner wählte andere, letztlich aber auf dasselbe hinauslaufende Worte, um zum Thema „Digitalisierung in unserer Gesellschaft – Herausforderungen und Chancen für eine bessere Zukunft“ überzuleiten. So war der Abendvortrag des dritten von der G. und I. Leifheit-Stiftung finanzierten Nassauer Dialogs überschrieben, zu dem die in Münster ansässige Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft nach Nassau eingeladen hatte.
Auch für diese Runde der 2015 ins Leben gerufenen Veranstaltung, die junge Nachwuchs-Führungskräfte für gesellschafts- und kommunalpolitisch aktuelle Fragen sensibilisieren möchte, hatte man einen hochkarätigen Referenten an Land gezogen: Rainer Bomba war von 2009 bis März 2018 als Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium unter anderem für den Themenkomplex Digitale Infrastruktur zuständig. Heute arbeitet der 54-Jährige in einem sogenannten Think Tank mit – einem Institut, das Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung zu vernehmen versucht, indem es politikberatend tätig ist.
Ja, die Digitalisierung sei von ihrer Bedeutung her durchaus mit der industriellen Revolution vergleichbar, griff Bomba Armin Wenzels Worte auf: „Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Sie umfasst alle Lebensbereiche – und zwar weltweit.“ Und: „Während die industrielle Revolution viele Jahrzehnte in Anspruch genommen hat, vollzieht sich die Digitalisierung in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Sie kommt wie eine riesige Welle auf uns zu und braucht nur wenige Monate und Jahre, um die Welt massiv zu verändern.“ Gleichwohl handle es sich nicht, um ein Thema, das man in absehbarer Zeit ad acta legen könne: „Es wird uns über viele Dekaden hinweg beschäftigen.“
Was die „Nostalgie“ betrifft: Ob jemand wisse, wie viele Apps es im Fußball-WM-Jahr 2006 gegeben hat, fragte Bomba in die Runde: „Richtig, gar keine. Damals hat es nämlich noch gar keine Smartphones gegeben.“ Eine Entwicklung mit bahnbrechenden Neuerungen also, die zwar nicht nur Positives mit sich bringt, die Gesellschaft aber unter Zugzwang bringt. „Wir müssen den Menschen die Vorteile erklären, die diese Neuerungen mit sich bringen, denn es wäre fatal, wenn ein Teil der Bevölkerung auf der Strecke bleiben würde“, betonte Bomba. „Die Digitalisierung können wir nicht aussitzen. Wir müssen uns damit beschäftigen, ob es uns Spaß macht oder nicht, denn sonst gehen irgendwann die Lichter aus.“
Bund und Länder hätten bereits viel Geld in die Digitalisierung gesteckt, in dieser Legislaturperiode werde die Bundesregierung im Rahmen ihrer Digitalisierungskampagne noch einmal 12 Milliarden obendrauf setzen, so Bomba. „Das Geld muss jetzt unter die Erde gebracht werden“, umschrieb er das Ziel, bis 2025 flächendeckend mit Glasfaserkabel ausgestattet zu sein, und differenzierte: „Mit 85 Prozent entfällt der Löwenanteil der Kosten nicht auf die Kabel, sondern auf die Erdarbeiten.“ Überhaupt scheitere das Ganze nicht am Geld: „Das Problem ist eher die Umsetzung.“ Und was die leidigen Funklöcher betrifft, die es dem Vernehmen nach sogar in Berlin gibt: „Die Bundesregierung arbeitet zurzeit fieberhaft daran, sie zu beseitigen. Ich gehe davon aus, dass es in einigen Jahren so weit ist“, sagte der Ex-Staatssekretär. „Andere Länder sind da wesentlich weiter als wir.“
Auch auf die Themen Elektromobilität und automatisiertes Fahren („Damit könnte man Unfälle um 90 Prozent reduzieren, da die Fahrzeuge Gefahren wesentlich schneller erkennen als wir Menschen“) und digitalisiertes Wohnen („Die Häuser denken mit und kommunizieren mit uns“) ging Bomba kurz ein, bevor er verdeutlichte, wie sehr dies alles schon an die Realität herangerückt ist: „Das ist nicht Raumschiff Enterprise. Das sind wir.“
Kaum überraschend, dass in der abschließenden Diskussionsrunde auch der eine oder andere kritische Ton zu hören war. „Wo kommen Kinder und Jugendliche heute noch in Kontakt mit der Natur?“, fragte sinngemäß ein Zuhörer. „Wo kommen die Menschen noch zusammen, wo findet Demokratie noch statt?“, warf ein anderer in die Runde. In Zeiten von WhatsApp und Co. gebe es für die Jugendlichen keinen Rückzugsort mehr. Mit dieser Situation pädagogisch angemessen umzugehen, sei eine mindestens ebenso große Herausforderung wie die Digitalisierung selbst, fügte Martin Ufer, Schulleiter des Leifheit-Campus, hinzu.
Im Zuge der Digitalisierung drohe vieles, darunter die soziale Kommunikation von Mensch zu Mensch, auf der Strecke zu bleiben, bestätigte Rainer Bomba, der diesen Zwiespalt jedoch nicht für unlösbar hält. „Wir müssen die Zukunft gestalten und gleichzeitig das Erbe erhalten“, betonte er, ohne hier weiter ins Detail zu gehen.